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Aufdringliche Selbstdarstellung seit 1996
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von
Alexander
Auer
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Engel

"Und wie lang schon?"
"Seit Du lebst."
"Und warum hab ich Dich nie bemerkt?"
"Kleiner Trick. Wir sind auf der Zeitachse immer einen Schritt voraus. Darum existieren wir immer einen Bruchteil vor euch und Ihr könnt uns nicht sehen."
Wir gehen eine Weile schweigend nebeneinander.
"Und was ist passiert?"
"Ich bin mir selbst nicht sicher. Ich bin ... gestolpert. Irgendwie zumindest. Zeitlich gesehen."
Ich kann es noch nicht ganz glauben. Ich ging ganz normal spazieren, plötzlich reißt mich etwas Schweres zu Boden und ein Stein, der von einer Dachfassade abgebrochen war, schlug krachend neben mir zu Boden.
Und plötzlich war er da.
Mein Schutzengel.
"Hm, ich hab mir euch immer irgendwie anders vorgestellt."
"Wieso? Gefallen dir meine Jeans nicht?"
"Doch, doch, sind eh in Ordnung. Nur ... ich dachte immer ihr habt Flügel und so ein Zeug. Und eine weißen Laken um. So was in der Richtung."
"Ein Laken? Bei minus drei Grad? Ich glaub du hast sie nicht mehr alle? Dich beschützen ist die eine Sache, aber deswegen frier ich mir doch nicht den Arsch ab! Und was die Flügel betrifft: Es gibt elegantere Accessoires. Ich will mich vor den anderen ja nicht blamieren!"
"Wie viele andere gibt's denn? Hat jeder Mensch seinen eigenen Schutzengel?"
"Nein, nicht jeder. Ich kann Dir auch nicht sagen, wie viele wir sind, eine ganze Menge jedenfalls."
"Und wie kommts, daß gerade ich einen hab und andere nicht?"
"Frag mich nicht so was, ich kanns dir nicht sagen. Ich bekomm nur meine Aufträge zugeteilt, mehr frage ich gar nicht."
"Wer verteilt die Aufträge?"
"Keine Ahnung. Ich kenn niemand aus der Chefetage. Wenns soweit ist, weiß ich es, das ist alles."
Wir durchqueren den kleinen Park in der Stadtmitte und setzen uns trotz der Kälte auf eine Bank. Autolärm dringt von der Hauptstraße zu uns, der Park selber ist aber menschenleer.
"Darf ich dich etwas Persönliches fragen?"
"Klar."
"Wie oft hast Du mir schon das Leben gerettet?"
Er denkt kurz nach, seine Augen geschlossen.
"Aaaah, soweit ich mich erinnern kann ... 7 mal."
"7 MAL!!!"
"Ja."
"Das heißt, ich wäre schon 7 mal gestorben, wenn Du nicht gewesen wärst?!!"
"Ja."
"Wann?"
"Das letzte Mal, als Du zu deinen Großeltern gefahren bist, zum Beispiel."
"Häh? Da war doch gar nichts. Trockene Straße, kein Verkehr, keine gefährliche Situation."
"Dreimal darfst Du raten, wer das Loch im Bremsschlauch zugehalten hat, das der Marder hineingebissen hat."
Ich mache mir eine gedankliche Notiz, das Auto demnächst in die Werkstatt zu bringen.
"Und wann noch?"
"Als Kind bist Du mal vom Kasten gefallen. Aber da wirst Du Dich nicht mehr daran erinnern können."
Doch. Dunkel kann ich mich an die Situation erinnern. Ich kann mich erinnern, daß ich wie am Spieß geschrien habe vor Angst und Schrecken und daß meine Eltern kreidebleich ins Zimmer gestürzt kamen.
"Ohne Dich wäre ich mit drei Jahren gestorben?"
"Ja."
Wow, das gehört wohl zu den Sachen, die dem Leben eine neue Perspektive geben.
"Und Du bist immer in meiner Nähe gewesen?"
"Ja, immer."
"Immer???!!"
Er sieht mich verwirrt an, dann versteht er.
"Ach so, das meinst Du. O.k., fast immer. Wir haben die Anweisung uns in bestimmten Situationen dezent zurückzuziehen. Hat auch nicht immer Nachteile." Ein seliges Lächeln umspielt seine Lippen. " Deine letzte Freundin hatte einen verdammt scharfen Schutzengel, kann ich Dir sagen! Willst Dus nicht wieder mit Ihr vers..."
"Nein!", unterbreche ich ihn scharf.
"O.k., o.k., war ja nur eine Frage."
Die Enttäuschung steht ihm ins Gesicht geschrieben.
"Also noch mal, weil ganz hab ich's noch nicht: Dein Job ist es also, mich seit meiner Geburt zu begleiten und darauf zu achten, daß mir nichts passiert."
"Auch, aber nicht nur. Es hat schon früher begonnen. Ich habe deine Eltern für Dich ausgewählt. Habe gescha..."
"MEINE ELTERN AUSGEWÄHLT?!!"
"Wie ich sagte, ja. Außerdem habe ich geschaut, daß Du in einem Land aufwächst, das einen gewissen Lebensstandard aufweist."
Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Kaum habe ich erfahren, daß ich eigentlich schon 7 mal hätte sterben sollen, muss ich erfahren, daß meine Eltern Sieger in einem 'Wer kriegt das Kind?'-Wettbewerb geworden sind!
"Und manchmal hab ich drauf geschaut, daß Du keinen Blödsinn machst."
"Was für Blödsinn?"
"Naja, daß Du die richtigen Entscheidungen triffst. Als Du die Schule abbrechen wolltest, hab ich ein wenig nachgeholfen, dich auf den richtigen Weg zurückzubringen. Habe bestimmte Leute von Dir ferngehalten. Situationen geradegebogen. Und die Sache mit dem Kondom hab ich in Ordnung gebracht."
"Frage nicht wie!", setzt er seufzend nach.
"Ich dachte, Ihr dürft nicht in unsere Entscheidungen eingreifen??"
"Das war ja kein Eingreifen!", druckst er sichtlich verlegen herum. "Eher ein ... in die richtige Richtung lenken."
"Und wer sagt Dir, was die richtige Richtung ist?"
"Na hör mal, ich hab schließlich jahrhundertelange Erfahrungen!"
"Aber Du kannst nicht in die Zukunft sehen, weißt nicht, was für Auswirkungen deine oder meine Entscheidung haben werden?"
"Pffff, ich bin ja nicht aus der Esoterik Ecke!"
"Das heißt, mein Leben basiert zu einem Gutteil gar nicht auf meinen, sondern auf deinen Entscheidungen?"
"Jaaaaaaaa, könnte man so sagen"
Er scheint etwas verunsichert.
"Was ist, wenn ich das gar nicht will? Wenn ich lieber meine eigenen Entscheidungen treffen möchte, inklusive aller Konsequenzen?"
"Naja, ich unterstehe deinen Wünschen und Befehlen. Obwohl es noch nie den Fall gegeben hat, daß uns eine Sterblicher Befehle gegeben hätte. Ist auch schwierig, wenn man im Normalfall zeitlich einige Sekunden voraus ist."
"Ich könnte Dir also befehlen, daß Du gehen sollst und Du würdest mein Leben nicht mehr beeinflussen?"
"Du willst daß ich gehe???!!! Ich bin Dein Schutzengel! Du wärst dem Leben ausgeliefert!"
Ich starre auf den gefrorenen Boden. Sehe die winterfest eingepackten Rosenstöcke. Die letzten Reste Schnee, die noch tapfer der Großstadt trotzen.
Dann drehe ich mich zu ihm: "Ja, ich will, daß Du gehst. Ich muss mein eigenes Leben leben, mit meinen eigenen Fehlern. Aus Fehlern kann man lernen."
Zum Beispiel nicht auf Kästen zu steigen, füge ich gedanklich hinzu.
"Ich danke Dir für Deine Hilfe, aber jetzt ist es Zeit, es alleine zu versuchen!"
Er nickt nur, steht auf und geht Richtung Ausgang.
Nach einigen Schritten bleibt er stehen und dreht sich um.
"Eins möchte ich Dir zum Abschied noch sagen."
Wir schauen uns in die Augen und ich merke, wie ich mit den Tränen zu kämpfen beginne.
Er zwinkert mir zu und lächelt dabei: "Bring dein Auto in die Werkstatt."

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