Kontakt-Linse

Links unten. Nicht rechts oben, wie es die meisten spüren.
Kein Schmerz.
Nur einfach da. Das Gefühl.
Als wäre eine Luftblase zwischen meinem Auge und der Linse. "Ein völlig neues Sehgefühl, nicht?", hat der Optiker gesagt.
"Ja", habe ich geantwortet. "Ja."
Ich weiß noch, daß Du ihn mir empfohlen hast.
Die Dinge sind die Gleichen geblieben. Auch die Menschen sind die Gleichen. Nur mein Blickfeld hat sich erweitert. Klare Sicht, die nicht mehr von veralteteten, lädierten Brillengläsern beeinträchtigt wird. Und vor allem habe ich nicht mehr diese Ränder vor Augen, die meinen Horizont eingesperrt haben.
Zwei Tage bevor wir Schluß gemacht haben, warst Du mit mir gemeinsam im Geschäft, um einen Termin für die Anpassung auszumachen.
Als erstes habe ich mir eine Sonnenbrille gekauft. Beobachten, ohne gesehen zu werden. Die Brille lässig auf den Kopf schieben, wenn man ein Geschäft betritt.
Es scheint alles so neu zu sein. So fremd und wert entdeckt zu werden. Ich will die ganze Welt neu entdecken, ihr ihre Geheimnisse entreissen. All das, was bisher außerhalb des Brillenrandes stattgefunden hat.
Drei Tage hast Du mir Zeit gegeben, meine Sachen zu packen. Vielleicht wird's eine Woche, falls Du auf Urlaub fährst. Ein Mädchen in einem knappen Sommerkleid geht an mir vorbei. Als wir fast auf gleicher Höhe sind, dreht sie leicht den Kopf und wirft mir ein flüchtiges Lächeln zu.
Mit der Brille wäre es mir wohl nicht erlaubt gewesen, das wahrzunehmen.
Ein Möbelgeschäft hat gerade Spiegel im Angebot und dich betrete es. In einem Extraraum finden sie sich in allen Formen und Größen. Ich stehe alleine in der Mitte des Raumes. Wohin ich mich auch drehe, sehe ich mein Bild. Die Reflexionen werden von Wand zu Wand geworfen und wiederholen sich hundertfach. Tausend Möglichkeiten meiner Selbst.
Morgen werde ich in der neuen Wohnung einziehen. In meiner neuen Wohnung.
Wieviele dieser Abbilder kann ich wohl dorthin mitnehmen?
"Alle", schießt es mir durch den Kopf.
Wo ich die Brille verstaue wird sich wohl erst zeigen.