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von
Alexander
Auer
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Wittgenstein, ich kann nicht schlafen

Es ist ½ 3 und an Schlaf ist nicht zu denken. Seit zwei Stunden starre ich die Decke an und beobachte wie die Schatten sich im Mondlicht verändern. Ich bin auf der rechten und der linken Seite gelegen, am Rücken und am Bauch. Beim Schäfchenzählen bin ich bis 2536 gekommen und nach dem dritten Glas warmer Honigmilch war das Packerl leer.
Es ist erstaunlich wie anders die Welt in der Nacht ist. Leer, verlassen, friedlich. Ich sollte in der Nacht leben und den Tag meiden.
Gedanken kreisen und immer wieder sehe ich dein Bild vor mir. Ich sehe dich lachen, fühle deine Umarmung und hör dich reden. An der Wand, gleich neben dem Kleiderkasten, sehe ich dein Gesicht. Im Wind, der durch die Fensterritzen zieht, hör ich deine Stimme.
Draußen ziehen Wolken vorbei und verdunkeln für einige Sekunden den Mond. Ich steh auf, zieh mir ein T-Shirt an und lehn mich beim Fenster hinaus um eine Zigarette zu rauchen. Das rötliche Glimmen beleuchtet schwach die Dachziegel. Wenn ich den Rauch in die Nacht hinausblase kann ich für einige Sekunden einen Vorhang vor den Mond legen.
Dort drüben, im Schatten dieses Apfelbaumes sehe ich dich stehen. Du winkst mir mit erhobenen Armen zu. Ein Auto fährt auf der Straße am Haus vorbei. Der Lichtkegel der Scheinwerfer kriecht langsam die Hausmauer entlang, windet sich durch den Garten. Als er den Apfelbaum erreicht bist du verschwunden. Ganz allein steht er dort im grellen Scheinwerferlicht, kahl und schneebedeckt. Das Auto fährt vorbei, das Licht verschwindet.
Da bist du wieder. Der Motor ist kaum mehr zu hören.
Ich dämpfe die Zigarette aus, werfe den Stummel in den Nachbargarten und gehe wieder ins Bett. Bis zum Kinn ziehe ich mir die Decke. Sie ist noch lauwarm, trotzdem fröstle ich.
--EinSchafzweiSchafdreiSchafvierSchaffünfSchaf--
Heute hast du mich so komisch angeschaut. Und als ich mich zu dir umgedreht hab, hast du gleich weggeschaut
--sechsSchafsiebenSchafachtSchafneunSchaf--
Und gestern, in der Vorlesung, hat deine Hand meine öfters gestreift. Überhaupt setzt du dich oft neben mich.
--zehnSchafelfSchafzwölfSchafdreizehnSchafvierzehnSchaffünfzehn SchafsechszehnSchaf--
Die Briefe, die du mir schreibst, ich werde einfach nicht schlau aus ihnen. Oder aus dir. Du sagst ich kann dich so gut durchschauen. Kann ich das? Was weißt du von mir? Durchschaust du mich, weißt du was ich für dich empfinde?
--siebzehnSchaf achtzehnSchafneunzehnSchaf--
Die Anderen kennen mich doch überhaupt nicht. Machen sich über mich lustig und vergessen dabei, wie lächerlich sie selber im Grunde sind. Die Oberfläche zu kennen reicht den meisten. Ich will ihnen auch gar nicht mehr von mir zeigen. Sollen sie in ihrem dummen überheblichen Glauben bleiben, daß sie mir ja ach so überlegen sind.
--zwanzigSchafeinundzwanzigSchafzweiundzwanzigSchafdreiundzwanzig SchafvierundzwanzigSchaf--
Dir hab ich mehr von mir gezeigt. Ich weiß nur nicht, ob es gut war. Nicht daß ich glaube, daß du es gegen mich verwenden willst, aber ich weiß nicht, wie ich zu dir stehen soll. Wir würden nicht zusammenpassen, oder?
--fünfundzwanzigSchafsechsundzwanzigSchafsiebenundzwanzigSchafachtundzwanzig SchafneunundzwanzigSchafdreißigSchaf--
Dein Gesicht ist von der Wand weggewandert. Jetzt lächelst du mich von der Tür an. 4 Uhr 12 Minuten.
Bin ich in dich verliebt?
Nein!
Nein.
Vielleicht.
--einunddreißigSchaf zweiunddreißigSchafdreiunddreißigSchaf--
Was will ich eigentlich von dir?
Ich möchte einmal ganz offen mit dir reden können. Über alles, meine Gefühle, mich, dich, einfach alles. Ich möchte deine Hand halten dürfen, dich umarmen, dich küssen. Dich spüren und berühren dürfen.
Einmal hab ich dir schon ein Bussi gegeben. Für niemanden, der es gesehen hat, wird es mehr gewesen sein als ein Bussi unter Freunden, aber ich hab dich noch nach Stunden auf meinen Lippen gespürt. Deine Haut war so weich, so angenehm. Ich würde dich so gerne wieder spüren. Ich bereue es heute noch, daß ich dich zum Abschied nicht umarmt habe.
Ach, das ist doch alles egal!
--vierunddreißigSchaffünfunddreißigSchafsechsunddreißigSchafsiebenunddreißigSchafachtunddreißigSchaf--
Die blöden Viecher wollen einfach nicht normal über ihren Zaun springen. Manchmal springen fünf auf einmal, so daß ich mit dem zählen gar nicht mehr nachkomme, dann springen sie total aus dem Takt, schneller, langsamer.
Manche haben dein Gesicht und wollen einfach nicht wie ganz normale Schafe aussehen.
--neununddreißigSchafvierzigSchafeinundvierzigSchaf--
Jetzt ist eines auf die Schnauze gefallen und die nächsten drei sind darübergestolpert. Jetzt hab ich einen gedanklichen Schafhaufen vor Augen.
Das hat keinen Sinn. Wer das Schäfchenzählen erfunden hat muß entweder selten dämlich gewesen sein, oder er war leicht zum Schlafen zu bringen.
Es ist wohl wieder eine Zigarette fällig.
Aus der Decke herausschälen, T-Shirt anziehen, Fenster auf. Du winkst mir noch immer vom Apfelbaum her zu. Die Straßenlampen geben jetzt mehr Licht als der Mond, der schon fast hinter dem nahen Berg verschwunden ist. In zwei Stunden wird die Sonne aufgehen und dich vom Apfelbaum vertreiben.
Hast du schon mal eine Zigarette im Dunkeln glühen sehen? Wunderschön! Die verbrannte Asche, die von der darunterliegenden Glut hell beleuchtet wird.
Vielleicht werde ich dir davon erzählen, heute, wenn wir uns in der Vorlesung sehen. Vielleicht wird deine Hand wieder zufällig meine öfters berühren und wir werden zufällig nebeneinander sitzen.
Ich schnippe die Zigarette wieder in Richtung Nachbarsgarten, schließe das Fenster und flüchte mich unter die lauwarme Decke.
--EinSchafzweiSchafdreiSchaf ...

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